Geburtstag im Mai

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Albert Nicholas, * 27.05.1900, New Orleans, US † 03.09.1973, Basel

Klarinette, Saxophon

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Verwirrungen um Jazz

Aus dem Magazin « Jazz-Podium », Oktober 1960 (Auszüge)

Der amerikanische Klarinettist Albert Nicholas, der jetzt nach langjährigem Europaaufenthalt wieder in die USA zurückkehrt, hat dem JAZZ-PODIUM über seine Erfahrungen in Europa berichtet und sich dabei auch über grundsätzliche Fragen zum Thema Jazz geäussert. Wir geben hier die Ausführungen des 60-jährigen New Orleans-Musikers in der deutschen Übersetzung wieder.

«Jetzt im Oktober werden es 7 Jahre, dass ich in Europa lebe, und ich kann sagen, dass ich mich hier überall recht wohlgefühlt habe. Bei meinem Besuch zu Hause in den USA im vergangenen Jahr wurde mir aber doch wieder bewusst, welch starke Fäden mich an dieses Amerika knüpfen, in dem ich geboren wurde, aufwuchs und aktiv an der Jazzentwicklung teilhatte, so dass ich mich entschloss, Europa wieder zu verlassen und in die USA zurückzukehren. Denn wo findet man bei aller Ausweitung des Jazz auf andere Länder so viele gute Musikergruppen, die wirklich echten Jazz zu bieten haben, wie in den Staaten? Und wohin sonst könnte ich mich so stark hingezogen fühlen als an die alten Wirkungsstätten zu den Kollegen von einst? Wie viele unauslöschliche persönliche Erlebnisse verbinden mich doch mit meinem Heimatland!
So werde ich nie die Jahre zwischen 1930 und 1940 vergessen, in denen ich mit Luis Russell und Louis Armstrong zusammen musizierte. Es war wohl die schönste Zeit meines Lebens. Auch im Chick Webb Orchester verlebte ich wunderschöne Stunden, leider konnte ich nur 9 Monate in dieser hervorragenden Band tätig sein. Im Gedächtnis bleiben mir auch stets die Sessions, die unter dem Motto ,,This is Jazz» für den Rundfunk aufgenommen wurden. Man hatte dabei Gelegenheit, immer wieder mit anderen grossartigen Musikern in Berührung zu kommen, so etwa mit dem Pianisten James P. Johnson und Ralph Sutton, auch mit Art Hodes, dann mit den Posaunisten Jimmy Archey und George Brunies oder dem Trompeter, den ich immer sehr geschätzt habe: mit Wild Bill Davison. Es wurden überhaupt alle guten Musiker, die in und um New York lebten, zu diesen Sessions herangezogen.
Ich spiele liebend gern in Dixieland-Bands, nur müssen die beteiligten Musiker auch wirklich gleichwertig sein und das trifft leider doch recht selten zu. Wenn ein Musiker die führende Rolle übernimmt und die andern Bandmitglieder nicht das gleiche Niveau aufweisen, hat man wenig Freude an der Musik. Man hat da nur eine Geräuschkulisse hinter sich, die ohne Sinn ist und nicht musikalisch anregt. Ich habe mich deshalb in letzter Zeit oft darauf beschränkt, lediglich mit einer gut eingespielten Rhythmusgruppe zusammen aufzutreten, weil die leichter aufzutreiben ist als eine wirklich gut ausgewogene Dixieland-Band. Auf diese Weise konnte ich mich dann wenigstens solistisch so entfalten, wie es mir vorschwebte.

Gerade in Europa habe ich festgestellt, dass es viele Leute gibt, die diesen Standpunkt nicht verstehen, denn sie wollen in jedem Fall eine ganze Dixieland-Band hören, einfach weil sie laut ist, und weil für sie die Lautstärke im Jazz ausschlaggebend ist. Dabei verliert der Jazz durch diese Überbetonung der Lautstärke an Dynamik, die ihn ja gerade besonders ansprechend macht. Dagegen habe ich nicht die Erfahrung gemacht, dass es in Europa an guten Rhythmusgruppen mangelt; sie sind oft denen in den USA durchaus ebenbürtig. Erst kürzlich hatte ich in Paris Gelegenheit, mit einer immens swingenden Rhythm-Section zu spielen - aber sie wurde rasch entdeckt und anderweitig eingesetzt, so dass ich das Nachsehen hatte.

Keine Lust zum Üben

Leider musste ich indessen den Eindruck gewinnen, dass die europäischen Musiker den Jazz oft nicht ernst genug nehmen. Sie üben nicht genügend und sind nicht bestrebt, sich ständig weiterzubilden. Wenn sie ein Engagement in einem Nachtklub haben und ihr Geld verdienen, sind sie zufrieden und sie lassen es dann an dem nötigen Ehrgeiz fehlen, der in der rechten Dosis nun einmal die Voraussetzung für eine niveauvolle Musik ist. Bedauerlicherweise gibt es aber auf dem Jazzgebiet viele, die trotz vielleicht guter Ansätze zu befriedigenden Leistungen ihre Fähigkeiten nicht fördern und ihre Unsicherheit durch Lautstärke zu vertuschen suchen. Sie halten das handwerkliche Können für nicht so wichtig und vergessen, dass man nur ausdrucksvoll spielen kann, wenn man sein Instrument meisterhaft beherrscht.
In den USA habe ich dagegen viel mehr jazzbegeisterte Jungen getroffen, die mit Leidenschaft bei der Sache sind, mit Überzeugungskraft musizieren und mit ihrem Instrument fest verwachsen sind, d. h. sich ständig mit ihm abgeben, sich immer weiter zu vervollkommnen suchen. Der Jazz ist ihnen mehr als ein Hobby, auch wenn sie die Musik nicht beruflich betreiben. Sie musizieren aus innerem Drang heraus, weil sie gar nicht anders können und es geht ihnen durchaus nicht darum, Geld damit zu verdienen oder an der Öffentlichkeit zu glänzen. Hie und da stösst man gerade in diesem Kreis auf wirkliche Meister, die jedoch nicht bekannt werden, weil sie gar keinen Wert darauf legen und sich darauf beschränken, mit Gleichgesinnten in kleinem Rahmen zusammenzubleiben. Hier wird die Musik stets zum beglückenden Erlebnis, weil sie sich in absoluter Freiheit vollzieht.
Für die wahrhaft grossen Musiker wie etwa Louis Armstrong ist der Jazz wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Louis schon in jungen Jahren völlig im Banne dieser Musik stand, denn wir sind ja gleichaltrig und wuchsen gemeinsam in New Orleans auf. Ich bin überzeugt davon, dass nur eine so gehaltvolle und damit faszinierende Musik wie der Jazz einen Musiker wie Satchmo zu derart aussergewöhnlichen Leistungen zu animieren vermochte, und es ist dementsprechend auch nicht allein das technische Können, das Armstrong zu dem grossen Musiker macht, sondern vor allem seine Persönlichkeit, die ihren Niederschlag in dieser Musik finden konnte. Nur dadurch aber blieb er in allen Jahren stets ein Mittelpunkt. Dasselbe gilt auch für Sidney Bechet, der schon in den Jahren 1915/16, als ich mit ihm zusammenkam, für nichts anderes Interesse hatte, als für Jazz und wieder Jazz. Für die meisten Musiker in New Orleans, ob sie Neger oder Weisse waren, bildete der Jazz eben den Inbegriff ihres Daseins und viele hatten eine enorme Ausstrahlung, was gewiss nicht mit kommerziellem Erfolg gleichzusetzen ist.
Ich weiss aber aus eigener Erfahrung, dass die alten Jazzbands so aufdringlich lärmende Musik machten, wie man sie heute oft von sogenannten Dixieland-Bands hören kann, und dass sie ständig danach trachteten, sich durch unermüdliches Üben und Probenarbeit weiterzubilden und zu vervollkommnen.
Bei der Gelegenheit möchte ich auch den Irrtum zerstreuen, der in vielen Artikeln und Büchern verbreitet wurde, dass die Negermusiker keine Notenkenntnisse hatten. Freddie Keppard, Manuel Perez, King Oliver, Bunk Johnson und viele andere Musiker lasen ebenso mühelos Noten wie Lorenzo Tio, der mein Lehrer war und der auch Barney Bigard und Omer Simeon unterrichtete. So um 1915 herum waren übrigens die Notenhefte der Ragtime-Pianisten Scott Joplin, die die damals populärsten Melodien enthielten, in New Orleans sehr verbreitet und damit hatte jeder die Möglichkeit, diese Stücke zu spielen. Dass auch die farbigen Jazzbands diese Melodien in ihr Repertoire aufnahmen und zunächst vom Blatt einstudierten, beweist ebenfalls die Notenkenntnis der meisten Negermusiker jener Zeit.

LoRoccas Mickey Mouse Jazz

In diesem Zusammenhang gleich ein Wort zu Nick LaRoccas Behauptungen über die Entstehung des Jazz. Ich kenne LaRocca schon von Kindheit an. AIs ich etwa 16 Jahre alt war, spielte er in Storyville an einem Ort, wo auch George Brunies auftrat, und den die Musiker das Halfway House nannten. Schon damals pflegte man die Musik Nick LaRoccas als ,,Mickey Mouse Jazz"' anzusprechen, womit angedeutet werden sollte, dass es sich um eine amüsante Kopie des echten Jazz handelte. Dieser Mickey Mouse Jazz war eine Tanzmusik, die den Weissen sehr willkommen war, da sie selbst bislang keine eigene derart rhythmische Musik aufzuweisen hatten. Sie fanden deshalb grossen Gefallen daran, weil sie besonders stark zum Tanz anregte. Nick LaRoccas Musiker galten damals als Amateure, zumal sie nicht wie Manuel Perez, King Oliver, Buddy Petit, Louis, Sidney und all die andern das ganze Jahr über zu hören waren, sondern nur hie und da nach New Orleans kamen, von wo aus sie dann wieder nach Chicago gingen. Und es war auch nicht LaRocca, der den Menschen überall in der Welt die Botschaft des Jazz nahebrachte, sondern es war Satchmo. Wenn es LaRocca wunderbarerweise gelang, die ersten Platten mit der Musik einzuspielen, die sie Jazz nannten, so waren es doch nicht diese Stücke, die die Menschheit faszinierten und dem Jazz sein Ansehen in der Welt gaben, sondern das war das Verdienst der grossen Musikerpersönlichkeiten, die die Musik mit Substanz füllten und denen es nicht darum ging, eine neue Tanzmusik zu erfinden. Der Jazz erwuchs aus den Worksongs, den Spirituals und dem Blues ganz natürlich und unbemerkt, lange bevor Nick LaRocca noch zu musizieren anfing, und ohne diese Wurzeln echter Volksmusik ist der Jazz überhaupt nicht denkbar. Auch Nick LaRocca schöpfte aus diesen Quellen, liess sich von diesen Vorbildern anregen, ja kopierte sie. Eine eigene, von menschlicher Substanz getragene Musik hat seine Gruppe nie gebracht und Plattenaufnahmen als Beweismaterial für die ,,Erfindung" des Jazz heranzuziehen, ist nichts als ein Propagandatrick.
Bisher hat niemand an den geschichtlichen Tatsachen gezweifelt, dass der Jazz hauptsächlich von farbigen Musikern kreiert wurde und dass er als deren Beitrag zum Musikschaffen unserer Zeit zu werten ist. Die Weissen brachten in dieser Richtung nichts Eigenes und selbst als die grosse Zeit der Big Bands anbrach, waren es die Neger, die eine ausschlaggebende Rolle spielten. Auch die Riesenerfolge Benny Goodmans waren zum grössten Teil der Verdienst Fletcher Hendersons, ohne den die Goodman Band nicht das Profil bekommen hätte, das sie so überragend erscheinen liess. Denn auch Goodman spielte einst Mickey Mouse Musik, das darf man nicht vergessen!
Und welcher weissen Sängerin könnte es je gelingen, Gospelsongs so eindringlich und faszinierend vorzutragen wie etwa Mahalia Jackson oder Sister Rosetta Tharpe? Hier beweist sich doch überzeugend, dass sich die Mentalität und Lebensauffassung der Neger sehr deutlich von der der Weissen unterscheidet.

Universeller Jazz

In Europa traf ich wirklich glänzende Jazzinterpreten mit hohem Spielniveau. So halte ich Guy Lafitte für einen der besten französischen Jazzmusiker, der einen Vergleich mit USA-Stars nicht zu scheuen braucht, wenn er auch nicht den Rang der bedeutendsten Jazzpersönlichkeiten erreicht. Lafitte hat einen wunderbaren Ton und man kann ihn hören, wann man will: er enttäuscht nie und sein Spiel ist immer von echtem Jazzfeeling getragen. Ich möchte auch noch eine weisse Big Band nennen, die in der Zeit des frühen Swing mit recht beachtlichen Leistungen aufwartete: das Casa Loma Orchestra, das sich vorwiegend aus jungen Studenten zusammensetzte. In fünf Jahren erspielte es sich eine hervorragende Position unter den amerikanischen Big Bands. Ich erlebte diese Band in den Jahren 1933/34, als ich im New Yorker Roseland Ballroom spielte und das Casa Loma Orchester auf dem Höhepunkt seiner Karriere in einem Lokal ganz in der Nähe verpflichtet war. Besonders gefielen mir die Arrangements, bei denen viel Wert auf den Zusammenklang der Blechsätze gelegt wurde und die für die damalige Zeit auffallend modern waren. Es war die Big Band, die am besten aufeinander eingespielt war und ausserordentlich präzise und sauber musizierte.

Jazz und Publikum

Das echte Jazzpublikum hat einen sehr feinen Sinn dafür, ob es sich um nichtssagende Musik handelt, selbst wenn sie für das Ohr oft recht angenehm klingt, oder ob im dargebotenen Programm wirklich ausdrucksstarke und mit Überzeugung dargebrachte Vorträge enthalten sind. Und in dieser Beziehung unterscheiden sich die Zuhörer in Europa und in den USA in keiner Weise. Wer mit innerer Anteilnahme musiziert, kann mit einem aufmerksamen, dankbaren Publikum rechnen, wer blufft, wird durch seine Effekte Unruhe ernten, und wer mit unverständlichen Experimenten aufwartet, muss mit Unaufmerksamkeit und Zurückhaltung rechnen. Das wird wohl in jedem Land der Welt die natürliche Reaktion sein.
Man muss sich immer genau bewusst sein, in welcher Umgebung man spielt, und welche Ausstrahlung der Jazz jeweils hat. Man darf nicht erwarten, dass in einem öffentlichen Lokal, in dem Jazz geboten wird, die Gäste so reagieren wie die Besucher eines Konzertes mit klassischer Musik in der Philharmonie. In den Konzertsaal geht man, um sich ausschliesslich auf die Musik zu konzentrieren und zuzuhören, in einem Nachtklub aber will man sich nicht still hinsetzen und horchen, sondern will sich irgendwie in das Geschehen einschalten: man unterhält sich, tanzt, isst und trinkt und bekundet seine Freude an der Musik durch spontane, offene Beifallsäusserungen und amüsiert sich in der Gesellschaft. Das ist ganz natürlich und die Swingmusiker stellen sich darauf ein, indem sie ihre Musik dem dortigen Klima anpassen. Unter den Musikern des Modern Jazz aber gibt es einige, die von den Gästen derartiger Lokale konzentriertes Zuhören verlangen und geneigt sind, das Publikum zu brüskieren, wenn es sich nicht ganz still verhält und sich nicht völlig auf sie einstellt. Das ist ein abnormes Verlangen, das der Freiheit an diesen Orten zuwiderläuft, und beweist auch ein völliges Missverstehen des Wesens des Jazz. Wenn sich rhythmische Musik beim Hörer in Bewegung umsetzt, wird er mit dem Fuss den Rhythmus unbewusst mitklopfen, wie es die Musiker selbst ja auch tun, und wenn er sich von einem Solo emotional angesprochen fühlt, wird er antwortend darauf reagieren.
Ich denke da vor allem an Art Tatum. Kurz bevor ich nach Europa ging, spielte ich in Los Angeles in einem Nachtklub, in dem auch Tatum engagiert war. Meine Gruppe setzte sich aus einem Pianisten aus New Orleans; einem Bassisten aus Chicago und Danny Barker als Gitarristen zusammen. Wir waren phantastisch aufeinander eingespielt und hatten in dem CIub grossen Erfolg, Als sich dann aber Art Tatum ans Klavier setzte und zu spielen begann, wurde es so ruhig in dem Lokal, dass man eine Nadel hätte zu Boden fallen hören. Was dieser Künstler bot, war so faszinierend, dass man einfach zuhören musste. Und ich konnte Abend für Abend die gleiche Beobachtung machen, obwohl die Gäste natürlich ständig wechselten.

Und was mich selbst betrifft: nun ich bin jetzt 60 Jahre alt und höre nicht auf, an mir zu arbeiten. Darauf beruht ja die natürliche Weiterentwicklung des Jazz, dass sich die Musiker ständig zu vervollkommnen suchen und somit ihren Stil verändern. Man höre sich doch einmal eine Platte von mir aus den Jahren 1924/25 mit King Oliver an, dann eine Aufnahme, die ich in den 30er Jahren mit Louis Armstrong und Luis Russell machte, danach ein Beispiel für die Musik, die ich 1945 mit anderen Gruppen machte und zuletzt eine der Platten, die ich in letzter Zeit in Europa einspielte - man merkt von Aufnahme zu Aufnahme eine Weiterentwicklung.»

(Jazz-Podium, Oktober 1960)

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Mehr über Albert Nicholas erfahrt Ihr im kommenden Jazzletter.

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Zusammengestellt von Thomas Schärer