Die Jazzszene ist eine Männerwelt. Noch immer, wenn auch schrumpfend. Zur Zeit, als Irène Schweizer diese betreten hatte, war sie es noch viel mehr. Gewiss, es hat sich in der Zwischenzeit, nicht zuletzt durch Irène Schweizers unerschrockenes Wirken, einiges getan, man könnte geradezu sagen, verbessert. Denn nach und nach wurde auch Frauen zugestanden, aus dem musikalischen Bildungsschema, das weitgehend in der «Beherrschung» von Gesang und dem leichthändigen Instrumentarium aus der Klassik bestand, auszubrechen. Gewiss, das Piano gehörte auch dazu und Irène Schweizer fand immer irgendwo ein Instrument. Und der Jazz ist die Musik, die Klangräume öffnet aber auch die Welt herein holt. Das Klavier ist schon fast das Instrument eines Einpersonenorchesters, wo vieles erprobt, wo ungestört die Freiheit erkundet werden kann. So trägt ja auch Christian Broeckings eindrückliches Standardwerk über Irène den Titel: Dieses unbändige Gefühl der Freiheit.
Irgendwann, anfangs der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts klebte man einer aufkommenden Stilrichtung das Etikett «Free Jazz» auf, als ob nicht schon zuvor Freiheit ein Wesensmerkmal des Jazz gewesen wäre. Wie frei war denn etwa ein Thelonious Monk, eine wichtige Inspirationsquelle Schweizers und Heerscharen von Jazzmusiker:innen? Oder unter den Frauen die grosse Mary Lou Williams?
Gewiss, dieser so genannte Free Jazz bot bald das Spielfeld, auf dem sich die Pianistin, die auch schon mal das Schlagzeug bediente, tummelte. In dieser Freiheit des künstlerischen Ausdrucks konnte man stets die agierende Künstlerin erkennen. Klar, man hatte es mit einer politischen Person zu tun, die den Feminismus und die Homosexualität in die Welt dieser gelegentlich muskelstarken Jazzkumpanei hinein trug. Diversität – wie man heute gerne sagt – ist eben auch Freiheit.
Vom nördlichen Landesrand am Rheinfall kam sie in die nicht sehr ferne Grossstadt am See, die sich zwar für eine Weltstadt hält, dann aber doch nicht zu viel an Welt herein lassen will. Und für ihre Art Musik musste ein grösseres Spielfeld her. Dieses fand sie draussen, manchmal weit draussen. Konzerttourneen trugen sie überall hin und überall dort fand sie auch die Leute, mit denen sie zusammenarbeiten, oder eben besser, spielen wollte. Die Intimität des Duo-Formates schätzte sie besonders, indem sie sich dialogisierend in unbekannte Nischen der musikalischen Welt vorwagte.
Die Details zu ihrer Hinterlassenschaft, die auch im Swiss Jazzorama aufbewahrt wird, können unzähligen Dokumenten entnommen werden. Sie ist eine Kulturbotschafterin des Landes, das gelegentlich Nachhilfe in Weltoffenheit benötigt, gewesen. Sie wird fehlen.
Auf der letzten Strecke hinderten bekannte Spielverderber wie Alter und Krankheit die Grande Dame des Schweizer Jazz daran, sich bis an ihr Lebensende künstlerisch zu entfalten.
Heinz Abler 17.7.2024