Geburtstag im April, Hans Kennel

Progressiv «back to the roots»

* 20.4.1939 – † 14.5.21

Wer nach den kräftigsten Wurzeln der Schweizer Volksmusik sucht, wird schnell fündig im Epizentrum zwischen Rigi und Pilatus, zwischen Aegeri-, Zuger- und Vierwaldstättersee. So mag es denn nicht erstaunen, dass der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in Schwyz geborene Hans Kennel im Laufe einer langen, national wie international höchst erfolgreichen Karriere als Jazzmusiker auch den «Urlauten» seiner engeren Heimat ein ganz besonderes Kapitel widmete.

Dieses «Back to the roots» wurde allerdings erst im letzten Lebensviertel des Innerschweizers auf spektakuläre Weise hör- und sichtbar. Der junge Kennel zeigte mit seiner Trompete frühes Talent in einer Jugendmusikgruppe und studierte anschliessend an den Konservatorien in Freiburg und Zürich. Sein intensives Bemühen galt jedoch nicht Bach und Beethoven, sondern dem modernen Jazz, der sich in den Fünfzigerjahren vom hektischen Bebop zum fulminanten Hardbop fortentwickelte. Im Africana, dem Zürcher Jazzmekka jener Ära, nahm man schnell Notiz von Hans Kennel, der 1960 als Mitglied des André Hager Quintetts auch am Jazzfestival in der Limmatstadt teilnahm und als Trompeter/Flügelhornist gleich den ersten Rang belegte. 1962 und 1966 klassierte er sich in diesem Wettbewerb gar als «abolut bester Solist».

Vom Hardbop zum Ethno-Jazz

Clifford Brown und Lee Morgan waren Kennels frühe Orientierungsmarken. An der Seite von Bruno Spoerri – dem ebenso talentierten Basler am Tenorsax – entwickelte er sich aber schnell zur eigenständigen Grösse und galt in den frühen Sechzigerjahren als führender Hardbop-Trompeter im Land. Und auf diesen jungen Mann wurde die Jazzwelt aufmerksam. Zwischen 1962 und 1969 spielte er mit der nationalen Elite im zeitgenössischen Jazz (George Gruntz, Remo Rau, Irène Schweizer, Alex Bally, Pierre Favre), aber auch mit ausländischen Spitzenmusikern (Kenny Clarke, Mal Waldron, Abdulla Ibrahim, Albert Mangelsdoff).

Die stilistischen Progressionen des modernen Jazz vollzog Hans Kennel ganz selbstverständlich mit. Als Rock- und Fusionjazz in den Siebzigern aufkam, überzeugte er in der Formation Magog gemeinsam mit Paul Haag, Andy Scherrer, Klaus Koenig, Peter Frei und Peter Schmidlin auf Konzertbühnen und Tonträgern. In der Folge bewies der Innerschweizer seine Vielseitigkeit in den Bands Jazz Community, Alpine Jazz Herd und Alpine Experience, im Interplay mit Urs Blöchlinger, Carla Bley und  Steve Lacy, dann ein volles Jahrzehnt lang in seinem Ethno-Jazz-Vehikel Habarigani.

Ethno-Jazz – unter Einschluss helvetischer Klangmuster? Darüber schrieb Peter Bürli vor ein paar Jahren ein paar hübsche, anekdotische Sätze: «Eines seiner wichtigsten musikalischen Erlebnisse hatte Hans Kennel in den 1960er-Jahren im Kopenhagener Jazzclub Vingarden. Der legendäre schwedische Pianist Jan Johansson fragte ihn einfach, ob er ein Schweizer Volkslied spielen könne. Der talentierte Jungspund aus der Schweiz, der den klassischen Hardbop drauf hatte wie kaum einer, konnte nicht reagieren. Peinlich war es ihm deshalb, weil Skandinavier wie Jan Johansson ein völlig unverkrampftes Verhältnis zu ihrer eigenen Tradition hatten und auch im Jazzkontext frei damit spielten. Zurück in Zug besorgte sich Kennel ein Alphorn und suchte bald einmal verwandte Geister, die das Terrain mit ihm erforschen wollten.»

Experimentell mit Lust und Laune

Waren bereits Trompete und Flügelhorn für Hans Kennel problemlos austauschbare instrumentale Zwillinge, so galt das in der Folge auch für das ventilfreie Alphorn und dessen gewundene Kurzform, den Büchel. Mit drei weiteren Jazztrompetern gründete er 1990 das Alphornquartett Mytha, das sich nicht den traditionellen Dreiklängen verpflichtet fühlte, sondern – Kennels Souplesse folgend – mit Lust und Laune in experimentelle Zonen zwischen Folklore, Jazz und Klassik vorstiess. 1998 wurde er für diese «pionierhafte und engagierte Auseinandersetzung mit Elementen alpiner Musik» mit dem Innerschweizer Kulturpreis geehrt.

Dass sich nicht nur mit Instrumenten, sondern auch mit der menschlichen Stimme polyphone Grenzbereiche testen lassen, bewies Hans Kennel ab 2013 als Mitglied der Ensembles Gäzig und Obsigänt. Sein spätes Projekt Wood & Brass mit der singenden Cellistin Cégiu Voser sowie den Instrumentalisten Silvan Schmid und Phil Powell lieferte weitere Beweise dafür, wie gut sich Tradition, Avantgarde und Seelenverwandtschaft musikalisch bündeln lassen. Mit der Gruppe Africana 19+ schloss sich für Kennel – der im Laufe seiner langen Karriere auch die Tonspur für Filme, Hörspiele und Theaterproduktionen legte – der Kreis eines Musikerlebens, das wohl 2021 endete, aber auf zahlreichen Tonträgern kraftvoll weiterwirkt.

René Bondt